Lebendig begraben, gerettet – und in der Orthopädie des Heidekreis-Klinikums sprichwörtlich wieder auf die Beine gestellt

Das Erdbeben in der Türkei und Syrien am 06. Februar 2023 hat mindestens 56.000 Menschen (Stand 25.03.2023, Quelle: Reuters) getötet, mindestens 125.626 Menschen wurden verletzt.

Chefarzt Dr. med. Serkan Özkir: „Die Bilder der Zerstörung aus meinem Heimatland haben auch mich erschüttert. Als ich in einem WhatsApp-Status sah, wie der Besitzer einer Kfz-Werkstatt gespendete Güter auf einen LKW lud, fragte ich, ob auch ich etwas tun könne.“ Der Werkstattinhaber erklärt dem Chefarzt der Orthopädie des Heidekreis-Klinikums, dass er – mit Unterstützung der Alevitischen Gemeinschaft Hannover – die Spenden in die Türkei bringen ließe und dass es Menschen in der Türkei gäbe, die eine medizinische Weiterbehandlung in Deutschland benötigen.

Gülcan K. (48) aus Antakya Hatay, einer Stadt nahe der syrischen Grenze, brauchte diese medizinische Hilfe dringend. Insgesamt neun Tage war sie Patientin der Fachabteilung für Orthopädie im Heidekreis-Klinikum in Soltau. „Als ich hierher kam wurde, konnte ich mich weder selbst aufsetzen, noch laufen,“ sagt sie und setzt sich vorsichtig auf die Bettkante, um dann aufzustehen. 30 Tage lang zuvor hatte sie in einem Krankenhaus in Adana, einer Stadt knapp 190 km weiter westlich im Süden ihrer Heimatstadt Antakya Hatay gelegen: Allein, mit einer Fremden im Krankenbett.

 

Die Nacht des Erdbebens

Gülcan K. erinnert sich: „In der Nacht des Erdbebens bin ich um 04:15 aufgewacht, weil das Haus, in dem ich mit meiner Mutter und meinen beiden Neffen lebte, quasi gesprungen ist.“ Alle versuchten, das Haus zu verlassen: Die Neffen stützen und trugen Gülcans chronisch kranke Mutter nach draußen. Gülcan K., die seit Kindheitstagen durch eine Knochenmarksentzündung ein steifes rechtes Knie hat, nahm die Treppe aus dem zweiten Stock. Gülcan K.: „Ich stand direkt vor der Verbindungstür in den Eingangsbereich, als die zweite Erdbebenwelle startete, das Haus erzitterte, bebte, die Wände sich verschoben – und sich die Verbindungstür zum Haustürbereich nicht mehr öffnen ließ.“ Sekunden später brach die Wand neben ihr in sich zusammen, Glas splitterte, Gülcan K. wurde von Betonmassen verschüttet: „Ich hatte nur diesen einen Gedanken: „Jemand muss mich finden, sonst werde ich hier sterben, lebendig begraben.“ Sie schrie immer wieder: „Ich bin hier, ich bin hier!“ Die Neffen, die Nachbarn, alle Überlebenden gruben mit Schaufeln, mit Händen – und mit einem Traktor nach ihr.  „Meine Neffen riefen: ,Wir retten dich oder wir sterben zusammen. Wir schaffen das!‘“ Nach fünf Stunden wurde Gülcan K. aus den Trümmern gezogen. Sie hatte viel Blut verloren, wurde kurz ohnmächtig. Ihre Neffen trugen sie auf ihren Rücken ins örtliche Krankenhaus. Direkt vor dem Eingang dieses angekommen, stürzte das Krankenhaus wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Bei den Erinnerungen daran verkrampfen sich Gülcans K.s Hände ineinander, Tränen treten in ihre Augen. Ein Nachbar hatte ein noch fahrbereites Auto, Gülcan K. wurde in ein Krankenhaus nach Adana, eine Stadt knapp 190 km weiter westlich im Süden, gebracht.

 

30 Tage im Krankenhaus in Adana – im Bett mit einer Fremden, ohne Hilfe

Dort wurden ihre großen Wunden am rechten Bein genäht, ein Stück Haut musste dazu transplantiert werden, die schwere Fraktur im linken Fuß operiert, die starken Quetschverletzungen an beiden Füßen, alle Zehen waren gebrochen, medizinisch versorgt. Das Krankenhaus in Adana war überfüllt, „überall lagen schwer verletzte Menschen, auch in den Fluren, in jedem Krankenbett zwei Menschen. Viele von ihnen hatten ihre Hände oder Füße oder Beine verloren“, erinnert sie sich und sagt ganz leise: „Ich hatte – im Vergleich zu diesen Menschen – doch Glück gehabt.“

Nach der Operation und der Bluttransfusion, die sie bekommen musste, lag Gülcan K. für 30 Tage im Krankenhaus in Adana: Ohne die Möglichkeit sich zu waschen. Dafür reichte die Zeit des völlig überlasteten Pflegepersonals nicht, ohne sich selbst bewegen zu können, allein – und mit einer Fremden in einem Bett. Gülcan K.: „Ich lag hilflos im Bett, gepeinigt von Albträumen, konnte mich nicht bewegen, nicht einmal im Bett aufsetzen und schon gar nicht aufstehen.“ Da es keinen guten Heilungsprozess gab und Gülcan K. in Deutschland eine Kontaktperson hatte, bei der sie wohnen konnte – verletzte türkische Menschen dürfen für drei Monate in Deutschland zur Behandlung bleiben, das Visum hierfür gibt es auf vereinfachtem Wege – wurde für sie ein Platz in einer deutschen Klinik gesucht. Dr. Özkir: „Das Heidekreis-Klinikum, mein Team und ich waren für die Weiterbehandlung von Gülcan K. bestens geeignet.“ 

 

Im Heidekreis-Klinikum Soltau sprichwörtlich auf die Beine gestellt

Während des Aufenthaltes im HKK wurden die seit fünf Wochen angelegten Unterschenkel-Gipse beidseits und nach knapp 5 Tagen - und zuvor erfolgten Röntgenverlaufskontrolle - die Kirschnerdrähte (= Edelstahlstifte) in Lokalanästhesie am linken Fuß entfernt. Dr. Özkir: „Außerdem zeigte die MRT-Untersuchung des linken Kniegelenks, dass das hintere Kreuzband und das Innenband gerissen sind.“ Das Sanitätshaus Pahmeyer aus Bergen und die Firma Enovis spendeten zwei Entlastungsschuhe, eine Kniegelenksorthese und Unterarmgehstützen. Chefarzt Dr. Özkir: „Ich möchte mich nochmals herzlich für die großzügige Spende bedanken.“  So kam Gülcan K. sprichwörtlich wieder auf die Füße: Jeden Tag trainierte die Physiotherapieabteilung des Heidekreis-Klinikums mit ihr: Zuerst an einem Gehwagen, nach wenigen Tagen bereits an Unterarmgehstützen. Gülcan: „Alle hier im Krankenhaus sind so freundlich und aufmerksam! Und endlich kann ich mich wieder selbst aufsetzen, sogar gehen.“

Nach insgesamt neun Tagen hat Gülcan K. das Heidekreis-Klinikum verlassen, Mitte Mai wird sie nochmals zu einer Verlaufskontrolle in die Orthopädie am HKK kommen. Dr. Özkir: „Dann wird sich zeigen, ob Innenband und hinteres Kreuzbands doch noch operativ stabilisiert werden müssen, aber ich hoffe, dass dies nicht der Fall sein muss.“ Gülcan K. wäre selbstverständlich auch froh, wenn sie nicht erneut operiert werden muss, „aber falls es doch sein muss, werde ich hier im Heidekreis-Klinikum in den besten Händen sein.“

 

Gruppenfoto: v.l.n.r.: Assistenzarzt Karim Abbas, Gesundheits- und Krankenpflegerin Laura-Sophie Gaebert, Physiotherapeutin Sarah Michaelis, Patientin Gülcan K. und Chefarzt der Orthopädie Dr. med. Serkan Özkir

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